Der Ortler – Licht, Farbe, Naturjuwel
Hoch über dem weltbekannten Bodenschatz des Vinschgaus, dem Marmor, erhebt sich sein gewaltiger Dom aus Dolomit und Kalk, getragen von Jahrmillionen altem Urgestein aus Quarz, Glimmerschiefer und Gneis.
„Am schönsten ist er im Herbst, im sanften Rot der aufgehenden Sonne. Da hat er etwas Magisches, Mystisches an sich“, erzählt Hermann, ein alter Vinschger Bergfex. Er sitzt gerne auf einer der Bänke entlang des Sonnensteiges oberhalb von Mals und wirft seinen Blick gegen Süden hinüber zum Ortler mitten im Horizont. Der Berg ist mit seinen 3905 m der König im Kreis der zahlreichen Dreitausender im Nationalpark Stilfserjoch.
„Der Ortler ist jeden Tag anders. Sein Lichtspiel fesselt mich“, sagt Hermann, der den Berg genau kennt.
„Egal, ob man ihn nur betrachtet oder ihn besteigt. In jungen Jahren bin ich oft oben auf dem Gipfel gewesen und habe hinuntergeschaut auf die Winzigkeiten des Tales. Der Berg, mein Berg, macht mich demütig. Er zeigt mir, wie klein und unbedeutend ich bin, gemessen an seiner Stärke und Größe. Wie oft habe ich mich damals spontan entschieden, zu ihm hinaufzugehen, meistens auf dem Normalweg von St. Gertraud in Sulden aus, hinauf zur Tabaretta-Hütte, Bärenkopfscharte, Payer-Hütte, durchs ‚Wandl‘ weiter über Eis und Schnee, hoch zu ihm. Oft bin ich ihn aber auch nur anschauen gegangen. Von Trafoi habe ich mich auf das Stilfserjoch fahren lassen und bin dann den Goldseeweg hinunter zur Furkelhütte gegangen, einen der schönsten Höhenwege überhaupt. Gewaltiger sind der Ortler und seine eigenwillige, schroffe Gletscherwelt nicht zu bestaunen als von hier. Als wäre der beinahe Viertausender plötzlich ein Achttausender, so groß, so mächtig, so weiß, azurn, grau, majestätisch, Ort der Götter, sagenumwoben.“
Heute unvorstellbar: Im Ersten Weltkrieg war der Gipfel heiß umkämpft. Frontlinien verliefen ebenso entlang des Goldseeweges vis-a-vis auf der Hangseite der Stilfserjoch-Straße. Thementafeln erklären auf diesem Höhenweg die Geschichte der kriegerischen Ereignisse, die örtliche Vegetation und Geologie. Kein Zufall auch, dass man nun von dieser Seite für Einheimische und Gäste den Blick auf den Ortler, seine Nachbarberge, auf das Stilfserjoch und die Passstraße neu öffnet: Aussichtsplattformen an den talseitigen Außenmauern der Stilfserjoch-Straße lassen die berühmte Serpentine selbst zu einem Panoramaerlebnis werden, mit großen Schautafeln zur Vielfalt der Natur und Schönheit des Nationalparks. „Irgendwie glaube ich zu ahnen“, erzählt Hermann weiter, „wie sich das Pseirer Josele, Josef Pichler, ein Gamsjäger im Dienste der Grafen Trapp auf der Churburg in Schluderns, am 27. September 1804 gefühlt haben muss. Er war der erste auf dem Ortler, hat ihn zigmal bestiegen, hat mit beinahe 70 Jahren immer noch neue Routen ausprobiert. Erzherzog Johann wird schon gewusst haben, warum dieser Berg für den Alpinismus erschlossen werden musste, auf Befehl, auf Teufel komm raus.“ Ein Obelisk beim Gasthof „Weißer Knott“ an der Stilfserjoch-Straße erinnert an die alpinistische Meisterleistung des Pseirer Josele.
Auch Reinhold Messner hat am Ortler Routen erschlossen, aber heute muss er nicht mehr auf den Berg. Er ist mit ihm und dem Gebiet verwachsen. Nunmehr Bergbauer treibt er jährlich Mitte Juni seine Yaks von der Talstation Sulden hinauf zum Madritsch am Fuß des Ortlergebietes, in die Welt der hochalpinen Flora und Fauna. Über allem kreisend der Steinadler, das Wappentier des Nationalparks. Wer will, macht es dem Adler gleich und genießt das atemberaubende Panorama aus der größten Luftseilbahn der Alpen hinauf zur Schaubachhütte oder dem Restaurant an der Bergstation. Messner hat dem Ortler auch eines seiner fünf Museen gewidmet. Das „Messner Mountain Museum Ortles“ in Sulden birgt weltweit die größte Sammlung von Bildern zum Ortler, zeigt Eisgeräte aus vergangener Zeit, thematisiert den Skilauf, das Eisklettern, den Süd- und Nordpol, die Wucht der Lawinen und die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Eis.
Hermann ist mit dem Alter weise geworden: „Wenn ich hier am Sonnensteig sitze und zum Ortler hinüberschaue, werde ich ruhig. Ich liebe die Langsamkeit, das leichte Schwingen meiner Seele. Alles Rastlose weicht einem leisen Gefühl von Ewigkeit. Einst fragte ich mich, was ich eigentlich auf dem Ortler zu suchen habe. Heute weiß ich es. Ich gehöre ihm und seinem Reich, diesem Naturjuwel und Kraftquell für gemütliche und anspruchsvolle Skisportler, Wanderer, Bergsteiger und Biker aus aller Welt – und für jene, die sich selbst begegnen wollen, wie ich.“