Text – Lenz Koppelstätter
Fotos – Armin Terzer, Patrick Schwienbacher
Was macht
Stille mit uns? Ein Blick in die Forschung zeigt: Die eigentliche Stille, wie sie ausschließlich unter Laborbedingungen einer
camera silens herrschen kann, empfinden wir als unerträglich. Still ist es nie in der
Natur. Und doch sehnen wir uns nach Stille, denn die Stille, die wir meinen, das ist die Abwesenheit von Großstadtlärm, von dem überbordenden Zivilisationswahnsinn.
Ein Ort solcher Stille ist der
Nationalpark Stilfserjoch. Er zählt mit etwas mehr als 1.300 Quadratkilometern, davon 534 Quadratkilometern allein in
Südtirol, zu den größten Naturschutzgebieten des Kontinents. Streift der Wanderer durch den Park, so hört er das, was er sich gemeinhin als
Stille herbeisehnt: das Brausen des
Windes, das Rauschen eines Bächleins, das Pfeifen der Murmeltiere, die
eigenen Schritte – sonst nichts. Er sieht die weißen Gipfel, die schroffen Felsen, die Hochalmen, Wiesen, Wälder, Alpenglöckchen, Mehlprimeln, Silberwurz. Mit etwas Glück auch: Hirsche,
Rehe, Steinböcke, Gämsen,
Adler.
Der Mensch entdeckt – und bald ist das bis dato Unentdeckte ein Anlaufpunkt der Massen. Häufig zerstört der Mensch die Stille, indem er sie findet. Doch ist das gezwungenermaßen so? Oder kann Tourismus
Genuss und Erkenntnis auch bieten, ohne zu zerstören? Er kann. Auch das zeigt das Beispiel des Nationalparks Stilfserjoch, der jüngst in die Europäische Charta für
Nachhaltigen Tourismus in Schutzgebieten (CETS) aufgenommen wurde. Der Grund: eine nachhaltige Entwicklung und ein optimales Tourismusmanagement, und zwar, wie es in der Begründung heißt, unter der „Berücksichtigung der Bedürfnisse von Umwelt, Anwohnern, der lokalen Wirtschaft und Besuchern.“
Nachhaltiger Tourismus muss eingehen in einen
Kreislauf aus Geben und Nehmen. Auch der Mensch, der inmitten der Stille in
idyllischen Bergdörfern lebt, der einen Teil des Nationalparks kulturlandschaftlich nutzt, ist ein unverzichtbarer Bestandteil eines
Naturschutzgebiets. Stille bedeutet Leben. Rund 64.000 Menschen gestalten das Stilfserjoch durch Landwirtschaft und Tierhaltung, durch nachhaltigen Tourismus. Die Bauern im Park tragen durch
sanfte Bewirtschaftung erheblich zum Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur bei.
Besucher können die unberührten Schönheiten des Parks erleben: Es gibt Wanderwege, Themenwege, Berg- und
Gletschertouren, Klettersteige und Kletterparks,
Almen und Schutzhütten, Radtouren, geführte Wildbeobachtungstouren und Workshops. Nur drei von zahlreichen Outdoor-Angeboten: Der
Ortler Höhenweg in sieben Etappen ist eine der anspruchsvollsten und unvergesslichsten
Höhenwanderungen der Alpen rund um das
Ortlermassiv. Eine einfache und doch nicht minder spektakuläre Rundwanderung bietet der
Plima-Schluchtenweg über einen
tosenden Wasserfall und hohe Hängebrücken hinweg. Die
Kneippanlage im Bärenbad in Sulden am Fuße des Ortlers eignet sich für einen entspannten Familienausflug.
Für die hiesigen Tourismustreibenden geht es beim Erleben des Nationalparks stets auch darum, die Besucher mit den Menschen in Kontakt zu bringen, die hier leben und wirtschaften, und so einen nachhaltigen Kreislauf zu eröffnen. Damit das Gegenteil von Stille – das Rauschen des Zivilisationswahnsinns – in jedem Einzelnen von uns etwas
leiser wird.